Hintergrund zur Geschichte
“Schlimme Erlebnisse, gutes Ende”

Schwerer Start in der neuen Heimat

Kurt Poguntke war einer von fast zwei Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen, die als Folge des Zweiten Weltkriegs nach Bayern kamen. Er, seine Mutter und die beiden Brüder hatten Glück, denn sie wurden freundlich aufgenommen. Vorher hatten andere Lichtenberger Familien es abgelehnt, eine Mutter mit drei Buben in ihr Haus zu lassen. Die Poguntkes bewohnten zwei kleine Räume, die aber nicht zu heizen waren. Eine über 80 Jahre alte Frau im Dachgeschoss lud sie ein, sich tagsüber bei ihr im Warmen aufzuhalten. Damit es den Kindern nicht langweilig war, wurden sie mit Handarbeiten beschäftigt. Aus Stoffresten nähten die Buben kleine Sachen und sie lernten stricken.

Als die amerikanischen Soldaten nach Lichtenberg kamen, hängten viele Lichtenberger als Zeichen der friedlichen Kapitulation weiße Betttücher aus dem Fenster. Familie Poguntke hatte ein solches nicht und nahm zu diesem Zweck eine lange weiße Unterhose.

Nach einigen Wochen bekamen die Poguntkes eine Amtsstube im Finanzamt mit zwei notdürftig aufgestellten Betten als Bleibe zugewiesen. In anderen Räumen waren ebenfalls Flüchtlinge untergebracht. Die ganze Stadt war voller Menschen aus Nieder- und Oberschlesien und aus dem Sudetenland. Ein ganzer Treck aus Neustädtel im Erzgebirge war dabei.

Ende April kam der Vater unverletzt aus dem Krieg zurück, die Familie war überglücklich. Arbeit bekam er zunächst nicht. Beim Reparieren der Öfen konnte er sich etwas verdienen. Schließlich begann er im Baugeschäft als Maurer. Hunger war alltäglich. Mutter Poguntke ging wie andere Frauen zu den Bauern in der Umgebung betteln. Nicht immer kam sie mit etwas Essbarem zurück. In den Kellern am Schlossberg, in denen Kartoffeln lagerten, mussten die Buben klauen gehen. Im Sommer ernährte man sich von Pilzen, die es 1945 in Hülle und Fülle gab. Im Herbst gingen die Buben auf den abgeernteten Feldern Ähren nachlesen – barfuß, mit blutenden Füßen. Daheim wurden die Ähren auf einer gefundenen Kaffeemühle gemahlen und zu einer Mehlsuppe gekocht.

Ein Festtag war es, als die Familie beim Kartoffelgraben helfen, sich satt essen und Kartoffeln als Wintervorrat mit nach Hause nehmen durfte. "So haben wir und viele Flüchtlinge die Hungerjahre bis zur Währungsreform durch manche Unredlichkeit, aber auch durch die Großherzigkeit und Güte einzelner einheimischer Familien und Menschen ohne Schaden überstanden", schreibt Kurt Poguntke in seinen Erinnerungen.

So wie Kurt Poguntke verloren zwischen zwölf und vierzehn Millionen Deutsche ihre Heimat, zwischen 600 000 und zwei Millionen starben aufgrund von Flucht oder Vertreibung. Man schätzt, dass als Folge der Naziherrschaft und des Zweiten Weltkriegs insgesamt zwischen 25 und 30 Millionen Menschen verschiedener europäischer Länder vertrieben wurden oder fliehen mussten.

Die ersten Deutschen, die im Zweiten Weltkrieg flüchteten, waren im Herbst 1944 die Ostpreußen, ebenso Deutsche in Ungarn und anderen Gebieten, in denen die sowjetische Armee nahte. Die Masse der Flüchtlinge und Vertriebenen war zu Kriegsende und bis 1950 unterwegs. Im August 1945 beschlossen die Siegermächte USA, Sowjetunion und Großbritannien auf der Konferenz in Potsdam die "humane und ordnungsgemäße Umsiedlung" aller Deutschen aus Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei. Diese Vorgabe "human und ordnungsgemäß" wurde oft nicht eingehalten. Die Flüchtlinge und Vertriebenen bekamen die Rache der Sieger zu spüren und erlebten Hunger, Not, Demütigungen, Misshandlungen, Vergewaltigungen und Mord. Ein Beispiel für die unmenschlichen Bedingungen ist ein Eisenbahnzug aus dem Sudetenland, der am 16. Dezember 1945 bei minus neun Grad auf dem Bahnhof in Hof ankam und in dem von 650 Vertriebenen 94 tot waren, darunter 22 Kinder.

In Bayern stammten die meisten Flüchtlinge und Vertriebene aus dem Sudetenland. Drei Millionen Deutsche wurden in der Tschechoslowakei enteignet und vertrieben. 1950 zählte der Freistaat offiziell 1,923 Millionen Vertriebene - 21 Prozent der bayerischen Bevölkerung. Nach Schleswig-Holstein (33 Prozent) und Niedersachsen (27,2 Prozent) hatte Bayern damit die drittgrößte Vertriebenenrate.

Hof war nach Kriegsende für viele dieser Flüchtlinge erster Anlaufpunkt. Die Stadt zählte wegen ihrer Lage an einer viel befahrenen Eisenbahnstrecke im Nordosten Bayerns zu den meistdurchfluteten Flüchtlingsschleusen in Mitteleuropa. Mehr als zwei Millionen Flüchtlinge und Vertriebene erhielten in Hof eine erste Unterkunft und Verpflegung. Im Stadtteil Moschendorf – unterhalb der heutigen Wunsiedler Straße – befand sich das größte bayerische Flüchtlingslager. Etwa 15 000 Heimatvertriebene blieben dauerhaft in der Stadt, die um nahezu ein Viertel wuchs.

Der Anfang in der neuen Heimat war für viele Flüchtlinge und Vertriebene schwer. Von den Einheimischen wurden sie vielfach mit Misstrauen beäugt, oft schlug ihnen blanker Hass entgegen, man unterstellte ihnen, zu stehlen und zu betrügen. Untersuchungen haben jedoch ergeben, dass die Kriminalitätsrate unter den Neubürgern nicht höher war als unter der angestammten Bevölkerung.

Fast drei von zehn heute lebenden Deutschen haben Vertreibung selbst erlebt oder sind die Kinder oder Enkel von Vertriebenen. Sie haben einen großen Anteil am Wiederaufbau Deutschlands, am Wirtschaftswunder in den Fünfziger- und Sechzigerjahren und an der kulturellen Vielfalt des Landes. Zahlreiche von ihnen trugen zur Erforschung der Geschichte ihrer neuen Heimat bei, so Manfred Joisten, der als Flüchtling von Schlesien nach Lichtenberg kam und mit

großer Geduld und Einsatz die Geschichte der Stadt erforschte und eine Chronik verfasste. Zum Dank verlieh ihm die Stadt die Ehrenbürgerwürde.
Auch von den Lehrerinnen und Lehrern an der Schule Lichtenberg nach dem Krieg waren drei als Flüchtlinge gekommen: Elisabeth Wagner aus Ratibor in Oberschlesien, Käte Prenzel aus dem schlesischen Grünberg und Johann Fuchs aus Stoy in Galizien.


Zur weiteren Information

Im Museum Bayerisches Vogtland in Hof informiert eine viel gelobte Ausstellung über Flüchtlinge und Vertriebene und ihr Leben in der neuen Heimat.

An der Wunsiedler Straße in Hof (auf Höhe von Hausnummer 59, dem Ärztehaus) erinnert ein Denkmal an das Flüchtlingslager Moschendorf, das vorher ein Arbeits- und KZ-Außenlager war.


Quellen

Kurt Poguntke. “Wie ich Lichtenberger wurde” (unveröffentlichtes Manuskript)

Bundeszentrale für politische Bildung

R. M. Douglas: “Ordnungsgemäße Überführung: Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg”, München 2012

Museum Bayerisches Vogtland Hof, Ausstellung Flucht und Vertreibung

 

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