Hintergrund zur Geschichte
“Dramatik an der Grenze”

Auf einmal liegt Lichtenberg am Grenzzaun

Der Lichtenberger Heinrich Reinkraut hat die deutsche Teilung aus nächster Nähe erlebt. Für sein Fuhrgeschäft – er war amtlicher Bahnspediteur - hatte er ein Lagerhaus in Blankenstein. Vom dortigen Bahnhof aus transportierte er fast täglich Waren von und nach Lichtenberg, ebenso vom Bahnhof Lichtenberg in Blechschmidtenhammer. Zu Kriegsende im April 1945 besetzten amerikanische Soldaten sowohl Nordbayern als auch das benachbarte Thüringen. Das änderte sich, als die Beschlüsse der Konferenz von Jalta (auf der Halbinsel Krim) umgesetzt wurden. In Jalta legten die Staatschefs Franklin D. Roosevelt (USA), Winston Churchill (England) und Josef Stalin (UdSSR) fest, dass Thüringen unter sowjetische Verwaltung kommen sollte. Deshalb räumten die US-Soldaten das Gebiet, vom 2. bis zum 6. Juli 1945 zogen die sowjetischen Soldaten ein.

Blankenstein wurde bereits am 2. Juli vormittags von den Sowjets besetzt. Sie errichteten an der Straße einen Schlagbaum und kontrollierten alle Zugänge. Besuche in Blankenstein oder den anderen benachbarten thüringischen Orten waren von Lichtenberg aus schwierig geworden. Was vorher alltäglich war, wurde zum gefährlichen Unternehmen.

Mehr als hundert Frauen und Männer aus Bayern arbeiteten damals in Wiedes Papierfabrik (heute Zellstoff- und Papierfabrik Rosenthal) in Blankenstein. Durch die neue Zonengrenze konnten sie nicht mehr an ihren Arbeitsplatz gelangen. Die Existenz vieler Familien war gefährdet, die jahrhundertelange wirtschaftliche und verwandtschaftliche Verbundenheit war zerrissen. Aus Lichtenberg wanderten vor allem in den Sechzigerjahren zahlreiche junge Menschen ab, die meisten nach Baden-Württemberg und ins Rheinland. Für die Vereine und die Feuerwehr bedeutete dies einen großen Aderlass, denn es fehlte ein großer Teil nach Nachwuchses. Insgesamt war die Grenzziehung das folgenreichste Ereignis in der Geschichte der Stadt, Lichtenberg war eine der Städte an der Grenze, die am meisten unter der Trennung litten.

Am 11. April 1945 fuhr der letzte Personenzug durch das Höllental. Die Bahnlinie von Lichtenberg nach Thüringen und die Autopostlinie nach Hirschberg wurden eingestellt, zwei Staatsstraßen nach Thüringen waren unterbrochen.

Bis zum Jahr 1945 hatte Lichtenberg ein reges Geschäftsleben. In fast jedem Haus am Marktplatz befand sich ein Laden oder ein Handwerksbetrieb. Im Einzelnen waren ansässig: ein Baugeschäft, eine Brauerei, drei Bäckereien, ein Elektrogeschäft, eine Flaschnerei, eine Glaserei, zwei Friseure, eine Buchbinderei, eine Gerberei, drei Malergeschäfte, fünf Metzgereien, zwei Schmiede, eine Seilerei, eine Wagnerei, eine Töpferei, zwei Schreinereien, zwei Schneidermeister, drei Schuster, drei Textilgeschäfte, zwei Kohlehandlungen, eine Schreibwarenhandlung und Kartonagenfabrik, die Dorschenmühle, das Sägewerk in Blechschmidtenhammer und die Selbitzmühle. Dazu kamen vier Lebensmittelgeschäfte und neun Wirtshäuser. Weiter gab es die Papierfabrik Ullstein, ein Haushaltswarengeschäft, ein Geschäft für Fahrräder und Motorräder, eine Gärtnerei, eine Spedition mit sechs Pferden, ein Fuhrgeschäft mit ebenfalls sechs Pferden, eine Handstickerei mit sechs Zeichnern und drei Haushaltshilfen, ein Geschäft für Blusen, Röcke und Fahnen, einen Laden für chemische Erzeugnisse und das Überlandwerk. An öffentlichen Einrichtungen existierten das Finanzamt, die Stadtverwaltung, die Sparkasse, das evangelische Pfarramt und der Bahnhof an der Strecke Marxgrün – Lobenstein – Triptis. Zum Arzt oder zum Zahnarzt ging man nach Blankenstein.

Die Grenzziehung schnitt Lichtenberg von einem großen Teil seines Hinterlandes ab. Das hatte enorme Auswirkungen auf die Wirtschaft und das öffentliche Leben. Lichtenberg, die lebendige Stadt mit großer Geschichte mitten in Deutschland, lag plötzlich an einem undurchdringlichen Grenzzaun. Vorher waren die Menschen nach Thüringen und Sachsen stärker orientiert als nach Bayern. Kinder gingen in weiterführende Schulen nach Lobenstein, wollte man schick einkaufen, fuhr man nach Leipzig. Mit der Bahn kamen viele thüringische und sächsische Ausflügler in das Höllental und nach Lichtenberg.

Das war nun vorbei. Für 44 Jahre sollte eine undurchdringliche Grenze die Stadt nach Norden abriegeln. Das einzige, was den Lichtenbergern blieb, war ein sehnsuchtsvoller Blick vom 1936 eröffneten Schlossturm hinüber nach Thüringen.

In einer Broschüre der Bayerischen Staatskanzlei aus dem Jahr 1981 sind Übersichtspunkte aufgeführt, an denen man die Grenzanlagen zur DDR besonders eindrucksvoll sehen konnte. Eine davon betrifft die Straße, auf der Heinrich Reinkraut 1945 fuhr. Hier der Originaltext aus dem Heft: "Straßensperre Lichtenberg – Lobenstein (ehemalige Buttermühle), Metallgitterzaun, bei der Anfahrt Blick von oben auf den Grenzverlauf. Park- und Wendemöglichkeiten für Pkw und Busse. Vom Schlossberg in Lichtenberg weiter Blick auf den Grenzverlauf und Blankenstein. Zufahrt für Pkw und Busse."

In Lichtenberg befand sich eine von vier Informationsstellen zur Grenze im Kreis Hof. Die anderen waren im evangelischen Pfarrsaal in Töpen, im Jugendhaus in Rehau und im Gästehaus der Deutsch-Französischen Gesellschaft in Fassmannsreuth. Viele Gruppen, vor allem Schulklassen, kamen nach Lichtenberg, um die Grenze zu sehen.


Zur weiteren Information

Über die Grenzanlagen und die Situation zur Zeit der Teilung informiert das Deutsch-Deutsche Museum in Mödlareuth im Kreis Hof. Dort kann man ein original erhaltenes Stück Mauer, einen Grenzturm und zahlreiche Ausstattungsstücke der Grenzpolizisten sehen.


Quellen

Heinrich Reinkraut, Lichtenberg: “Meine Erlebnisse an der Zonengrenze Bayern – Thüringen” (unveröffentlichtes Manuskript)

Verzeichnis der Gewerbebetriebe in Lichtenberg, Stadt Lichtenberg

 

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