Hintergrund zur Geschichte
“Ein besonderes Geschenk”

Eine musikalische Kostbarkeit

Im Haus Marteau in Lichtenberg liegt ein besonderer kulturhistorischer Schatz: die Seibiser Notenhandschrift. Es handelt sich um eine auf das Jahr 1784 datierte Sammlung von Tanzmelodien, eine der ältesten Gebrauchshandschriften und Sammlungen von Tanzmelodien in Mitteleuropa. Sie umfasst 175 einstimmig notierte Stücke aus verschiedenen Zeiten und stammt aus dem Besitz von Johanne Dietzel, einer Bäuerin aus dem zwei Kilometer von Lichtenberg entfernten Seibis in Thüringen, genannt die "Seibiser Hanne". Die Frau, die aus einer Musikantenfamilie stammte und gut Klavier spielte, schenkte das Notenbüchlein im Jahr 1925 kurz vor ihrem Tod dem Geigenvirtuosen Henri Marteau und seiner Frau Blanche, in deren Haus sie oft einkehrte und ihre landwirtschaftlichen Produkte verkaufte oder mit Marteau musizierte.

Ein Stück in dem Notenbüchlein ist etwas Besonderes: Die Melodie "Der Vogelfänger" zeigt, wie schnell sich Musikstücke im Land verbreiteten. Beim "Vogelfänger" handelt es sich um die Arie des Papageno "Der Vogelfänger bin ich ja" aus der Oper "Die Zauberflöte" von Wolfgang Amadeus Mozart. Sie wurde 1791 in Wien uraufgeführt und kam mit umherziehenden Musikanten schnell in den fränkisch-thüringischen Raum. Das zeigt, dass Melodien immer Gemeinschaftsgut waren und den örtlichen Verhältnissen und der jeweiligen Lage angepasst wurden.

Die Notenhandschrift ist mit dem Namen Heinrich Nicol Philipp gekennzeichnet, Johanne Dietzels Urgroßvater. Begonnen hat sie wohl dessen Vater Johann Nicol Philipp, ein "hochgräflicher Beamter" im Dienste des Hauses Reuß, Richter und Schulhalter. Er lebte wie Johanne Dietzel in Seibis. Von Generation zu Generation wurde das Büchlein in der Familie weitergegeben.

In dem Buch "Henri Marteau, Siegeszug einer Geige" beschreibt Blanche Marteau, wie Johanne Dietzel kurz vor ihrem Tod ihnen das Büchlein überreichte. Dazu habe sie gesagt: "Mit der Seibiser Hanne ist es bald aus. Hier bringe ich euch ein Andenken, das ihr mir aber wohl in Ehren halten sollt."

Henri Marteau studierte die Melodien eingehend. Eine der Tanzmelodien übernahm er als Thema für sein Rondino a la tedesca für Oboe und Orchester.

Johanne Dietzel blieb noch lange nach ihrem Tod im Gedächtnis der Menschen. In ihrem Sterbeeintrag steht über sie: "Reiche Erfahrung, natürlicher Verstand, tiefe Herzensbildung und christlicher Sinn waren ihr eigen. Sie war ein Stück oberländisches Leben."

In den Melodien der Seibiser Notenhandschrift leben die Bäuerin und ihre musizierenden Vorfahren weiter. In Lichtenberg hat sich zudem eine weitere Kostbarkeit erhalten: die Musikantengalerie im Restaurant "Harmonie". Solche Podeste, auf denen die Musikanten zu Festen wie Kirchweih oder Hochzeiten aufspielten, gab es im 19. Jahrhundert in zahlreichen Gaststätten im fränkisch-thüringischen Raum, der über eine reiche musikalische Tradition verfügt. Man kann annehmen, dass der Vater und der Großvater von Johanne Dietzel hier öfter aufspielten.


Was in der klassischen Musik zwischen 1784 und 1925 geschah

1786 wird in Wien "Figaros Hochzeit" von Wolfgang Amadeus Mozart uraufgeführt, 1791 seine "Zauberflöte"

1824 erklingt in Wien zum ersten Mal die neunte Symphonie von Ludwig van Beethoven, die das Gedicht "An die Freude" von Friedrich Schiller enthält;

1985 wählte die Europäische Gemeinschaft das Hauptthema des letzten Satzes als offizielle Europahymne aus.

1838/39 komponiert Frederic Chopin sein "Regentropfen-Prelude".

1848 bis 1874 arbeitet Richard Wagner am Opernzyklus "Der Ring des Nibelungen".

1858 bis 1869 komponiert Johannes Brahms die "Ungarischen Tänze", die auf Themen der ungarischen Folklore basieren.

1908 vollendet Gustav Mahler "Das Lied von der Erde".

1910 findet in Paris die Uraufführung des Balletts "Der Feuervogel" von Igor Strawinsky statt.


Quellen

Dr. Ulrich Wirtz: “Auf den Spuren der Volksmusik in Oberfranken. Die Seibiser Notenhandschrift”, in: “Echt Oberfranken”, Heft 27, 2015

Erwin Zachmeier. “Die Notenhandschrift des Heinrich Nicol Philipp”, Nürnberg 1984

Alfred Völkel: “Zwaa Baamla in Gartn, Mundartlieder aus Oberfranken”, Hof 1982

 

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